Texte

„Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.“
Sigmund Freud

Aufgewachsen in einer sächsischen Hügellandschaft, erfüllte bereits der Wechsel der Jahreszeiten die Tage mit Inhalt. Hatten die Freunde keine Zeit, gab es Buntstifte und Papier, ein Bächlein, auf dessen Grund grünlicher Ton zu finden war, aus dem sich Tiere und Figuren formen ließen.
Der „Schweizer Wald“ mit seinen schiefergrauen Felsen am stillen Fluss war ein geheimnisvoller Ort, aus dem Geschichten drangen. Die Farben und Gerüche der Baumrinden, des Mooses und des Flusses atmeten etwas von einer unbekannten Vergangenheit, wirkten gleichermaßen beängstigend wie anziehend. Am Wehr des Flusses lernte ich schwimmen. Hinter dem herabstürzenden Wasser am Wehr konnte man in aller Ruhe sitzen, verborgen, wie hinter einem Vorhang. Verborgen auch in den Baumkronen hinter dem Haus. Erdbeeren im Frühsommer aus dem Garten der Großeltern und mit den Brettern aus dem Gebrauchtwarenladen im Winter die Piste am „Idiotenhügel“ runterfahren. Alles war selbstverständlich.
Dann gab es die wunderbare Werkstatt des Großvaters mit alten Hobelbänken und allerlei interessanten Werkzeugen und Bastelkram. Dort stellte mein Großvater Praktisches und Wunderwerke her, wie das rasende Puppenkarussell, aus dem kurz nach Inbetriebnahme die Bewohner meines Puppenhauses herausgeschleudert wurden. Ich wusste trotzdem das Engagement des Großvaters zu schätzen und bewunderte sein Können. Die ungebrochene Freude am Wandern und Pilze suchen verdanke ich ihm ebenfalls.
Meine Großmutter, eine Frohnatur, behauptete, sie könne nicht zeichnen. Ihre Figuren mit den fünf bis sieben Krakelfingern bereiteten mir größtes Vergnügen und ich bat sie inständig, immer weiter zu zeichnen.
Da wir bereits im Grundschulalter mit dem 60. Jahrestag der Großen sozialistischen Oktoberrevolution konfrontiert wurden, mischte sich alsbald Schule mit privater Welt. So entstanden erste Bilderbücher, in denen Lenin und Indianer ihren Abenteuern nachgingen.
Das Versinken in Bildwelten ersetzte bald die Defizite privater und gesellschaftlicher Sphären. Auch halfen mir, als ich schon in der „Stadt ohne Bäume“ lebte, die Gemeinschaft der ganz jungen Künstlergeneration und mein damaliger Lehrer, der Maler Axel Wunsch, dem Zweifel zu begegnen. Bis zum heutigen Tag schätze und achte ich sein sicheres, wenn auch manchmal vernichtendes Urteil. Nie wieder habe ich eine so intensive Erfahrung machen dürfen.
Es ergab sich eine intuitive Hinwendung zur Kunst. Kunst als geistiger Freiraum, als Parallelwelt zum Dogma sozialistischen Einheitsdenkens in Schule und Gesellschaft. Da gab es etwas „Wahres“, etwas, was sich nicht auf „falsch“ oder „richtig“ reduzieren lies. Das fand ich auch im Theater, in der Musik und in Büchern. Es gab jede Menge „Futter“, um sich zu nähren.

So ist es geblieben. Menschen kommen und gehen von mir, an Stelle gelber Felder wuchert der Fortschritt, die Welt ist nicht mehr weit entfernt, hinter einer Mauer. Die Geschichten hinter den Dingen, den Wäldern und Orten sind anders geworden, sowohl verstörender und abgründiger als auch vielschichtiger. Und vielleicht versuche ich immer wieder, jenes großartig Einfache, die Natur, die Güte der Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, im Heutigen zu entdecken, wohl wissend, dass die Welt nicht so einfach ist.

So steht der Mensch als ephemeres Wesen im Weltgewebe im Fokus der Arbeit. Diese „Gegenüber“, die Spielenden, Versunkenen, die Wanderer, die am Ufer Stehenden, die Schreitenden begegnen dem Chaos des Weltgeschehens mit Kontemplation.
Die künstlerischen Experimente erstrecken sich sowohl in der Skulptur als auch in den Bildern bis ins nicht mehr Figürliche, obwohl diese stets von der Figur inspiriert sind. Mitunter entstehen die völlig konträr erscheinenden Arbeiten kurz nacheinander, vielleicht eine Abwendung von der Routine, ich weiß es nicht genau. Es ist mir ein Bedürfnis, beide Welten zu betreten.

Cornelia Weihe
August 2017

(aus dem Katalog „Zeitgleich“ 2018, gefördert von der Kunststiftung Sachsen- Anhalt)

FÜR CORNELIA WEIHE

Wir treffen uns in ihrem Büro an der Hochschule. Hell, weiß, sachlich, keine Kunst. „Ferngehalten von der Burg.“ Es ist ein grauer Nachmittag im Oktober. Wir fahren verschiedene Standorte an. „Stationen“. Sie fährt und erzählt.

An der tristen Peripherie der Stadt befindet sich ihr Bildhaueratelier. Sie teilt es mit zwei Kollegen. Das Gebäude ist von Weinranken überwuchert. Ein breites Holzgittertor mit Stahlschloss, eine schwere Metalltür führt nach innen: Stahlplatten, Stahlrohre, Gasflaschen. Maschinen und schweres Gerät. Schweißbrenner, Schraubzwingen, Schneidemaschine. Edelstahl. Die dunkle Farbe der Rostpatina überwiegt. Es ist dunkel, auch trotz des großen Dachs aus Glas.

Links, gleich neben der Eingangstür, steht ein überlebensgroßer Kopf. Stahldraht. Er besteht nur aus Stahldrähten, die aneinander geschweißt sind. Wie eine riesengroße Zeichnung im Raum. Die Drähte sind alle ähnlich lang. Keine sehr langen Stücke. Der Kopf ist nicht exakt gebaut. Locker sind die Drähte rhythmisch angeordnet: Diagonale, Schräge, Waagerechte. Kreuz und quer. Nervös! Trotzdem realistisch. Symmetrisch. Trotzdem skizzenhaft. Leichtigkeit und voller Spannung.

Ich sehe zu Cornelia Weihe. Ich stelle mir vor, wie sie an dem Kopf arbeitet. Sie ist klein, schlank, feingliedrig, leise.
„Die Drähte zu biegen, das erfordert doch große Kraft?“, frage ich. „Nein, beim Erhitzen wird das Material ganz weich, man kann ganz einfach damit arbeiten und es entsprechend leicht biegen.“
Man sieht das nicht. Es hat beim Erkalten seine Spannkraft und Energie zurückerhalten. Im Katalog sehe ich: Es gibt eine ganze Reihe von ähnlichen Skulpturen. „Figur herabschauend“, 2015. Hier keine feste Kontur. Auflösung. Wieder das Nervöse. Wieder Unruhe. Wieder Bewegung im Raum. „Am Ufer“, 2011. Hier dominiert die Senkrechte. Die Drähte sind länger. Statisch. Ruhig. Wie erstarrt laufen sie senkrecht von oben nach unten. „Drei“, 1998. Hier sind die Figuren viel abstrahierter. Der Eisendraht dicker. Bei der rechten Figur verwandelt er sich zu dicken, länglichen, groben Eisenteilen. Wir gehen nach oben in den ersten Stock. Dort steht eine ganz neue Skulptur. „Kreatur“. Sie hat ein geschlossenes Volumen. Mit einer ganz dunklen, fast schwarzen Patina. Matt glänzend. Unmerklich bemalt. Die Farbe wieder weitgehend entfernt.
Die Kreatur ist dünnhäutig. Sie besteht aus einer Vielzahl von kleinen Blechen, die zusammengeschweißt und entsprechend gebogen sind. Das Material erscheint weich wie Blei oder schwarzes Wachs. Das Tier ist naturalistisch dargestellt. Lebensgroß. Etwas größer als ein Reh, etwas kleiner als eine Hirschkuh. Der Kopf hat die Physiognomie eines Hundes. Oder eines Schafes? Irgendwo dazwischen. Das Tier steht nicht auf dem Boden. Es steht wie improvisiert auf verschiedenen rostigen Metallteilen. Labil. Wie aufgebockt. So wie wir es von den Autos her kennen. Wenn schnell und flüchtig ein Auto mit Backsteinen unterlegt wird, um heimlich die Räder mit den Reifen zu stehlen. Die Labilität der „Unterkonstruktion“ ist hier inszeniert. Alles ist unsichtbar professionell miteinander verschraubt. Das Tier steht auf dieser Konstruktion aus stereometrischen Elementen. „Wie kommt es dorthin?“, fragt sich der Betrachter. „Wie kommt es von dort wieder herunter?“ Die Haltung des Tieres ist wunderbar erfasst. Es steht. Kein in sich ruhendes Stehen. Eines der Hinterbeine ist ganz leicht angezogen. Verharrung. Ein kurzes Innehalten. Konzentrierte Aufmerksamkeit. Ein Hineinhören in die Stille. Um bei dem leisesten Geräusch die Flucht ins Gebüsch anzutreten. Das Tragische: Das ist hier nicht möglich. Was wir sehen, ist die Katastrophe vor der Katastrophe.
Wie ist die Plastik gemacht? Es gibt kein Modell dazu. Die Plastik ist additiv entstanden. Plättchen an Plättchen geschweißt. Wie kann man dabei die Proportionen im Blick behalten? Und die Übersicht? Hier wird nicht vom Großen ins Kleine gearbeitet, sondern vom Kleinen zum Großen gedacht.
Ein tolles Foto im Katalog auf Seite 20 gibt uns Aufschluss: Die gerade entstehende Plastik liegt auf einer großformatigen Pinselzeichnung. Beides im Maßstab 1:1. Die Zeichnung als Bauplan. Wir sehen auf dem Foto wie die Plastik wächst. Ungefähr die halbe Figur liegt vor uns. Sie erinnert auch an ein Wildbret. Das erlegte Tier wird waidgerecht in seine Einzelteile zerhackt, zersägt, zerschnitten.

Wir fahren weiter zu Station drei. Das Maleratelier. Ein hoher, lichter, weißer Raum empfängt uns. Großformatige Arbeiten hängen an der Wand. Einige wenige, kleinere Plastiken stehen herum. Eine geordnete Unordnung. Kein Malerchaos. „Die Plastik ist anregend für die Malerei. Beides bedingt sich.“ Wir sehen Körper, Akte, Köpfe. Eine Nacktheit und deren Verletzlichkeit. Und da ist sie wieder, diese Linie. Abgehackt. Nervös, fahrig, sensibel, leise. Und wieder ist die Figur in Auflösung begriffen. Ein Zerfließen. Ein Kommen und Gehen. Anwesend. Abwesend. Verschwinden. „Wanderer unter blauen Sonnen“. Die Sonnen leuchten nicht. Es sind nur kleine, hellblaue Flecken. Fünf. Was leuchtet, ist ein orangefarbenes Gefäß, das der einsame Wanderer mit schwerem Gepäck in der rechten Hand hält und ausschüttet. Ein orangefarbener Regen benetzt den rechten Fuß, den er vorsichtig nach vorne schiebt. Sacht. Schritt für Schritt. Und bald wird auch er aus dem Bild verschwunden sein.

„Abtransport des Kouros“. Die Leinwand wird zum Leidenstuch. Ein Körper ragt aus einer wild gemalten, schwarzgrauen Kastenform heraus. Er sieht aus, als wäre diese flüchtig, nachlässig zusammengezimmert worden. Ein merkwürdiger Kontrast von Oben und Unten. Im fein gezeichneten Gesicht ist kaum Farbe. Es ist fast schon körperlos, entleert, friedlich. Die Restfarbe zerfließt im Aquarell und verschwindet im Papier. „Kranich I“ und „Wanderer mit Kreatur“. Cornelia Weihes Malerei hat gleichzeitig etwas zutiefst Versöhnliches. Und lässt uns zur Ruhe kommen. Mensch und Natur im Einklang. Der Hund als treuer Wegbegleiter des Menschen. Den Weg zusammen gehen.
„Am Fluss“ und „Seeben“. Es gibt sie noch. Die unzerstörte Natur. Sehnsucht und Utopie.

Cornelia Weihes Kunst handelt vom langsames Vergehen. Wir alle. Es ist gleichzeitig etwas Tröstliches und Versöhnliches in ihren Arbeiten enthalten, das uns Hoffnung gibt.

Ulrich Klieber

12. November 2017
(aus dem Katalog“Zeitgleich“ 2018, gefördert von der Kunststiftung Sachsen-Anhalt)